Von Autopilot bis Walzer tanzen – das A bis Z des Interviews

Interview-Werkstatt

Das A bis Z des Interviews

Fragen kostet nicht viel: Nicht viel Zeit, nicht viel Mühe, nicht viel Vorbereitung. Glauben die meisten. Und schicken die Praktikantin oder den Volontär mal eben los, um ein Interview zu führen. Für diejenigen aber, die das Interview begreifen als das, was es eigentlich ist, nämlich die schwierigste, bei den Lesern beliebteste und am meisten unterschätzte journalistische Textform, gibt es hier einige Hinweise zur Kunst des Fragens.

Autopilot

Wer seinem Gesprächspartner zum Interview mit harmlosen, banalen und auch noch schlecht formulierten Kuschelfragen gegenübersitzt, der bekommt ein Interview per Autopilot serviert: die immer gleichen Dinge in den immer gleichen Worten formuliert, in der immer gleichen Tonlage. Das ist bequem für den Interviewer und den Interviewten, denn der Aufwand für die Vorbereitung und für das Führen des Gesprächs ist gleich null. Bequem ist ein Autopilot-Interview auch für den Leser – dann kann er schnell weiterblättern, ohne etwas verpasst zu haben.

Blablabla-Fragen

„Wissen Sie auf Anhieb, wo bei Ihnen der Weihnachtsbaumständer steht?“, hat Moritz von Uslar Harald Schmidt einst gefragt. Ein gutes Beispiel für eine Blablabla-Frage. Fragen, auf die eigentlich jeder etwas antworten kann, die vermeintlich harmlos daherkommen – aber doch einiges über den Interviewten verraten können. Zum Beispiel: „Was haben Sie zuletzt gegoogelt?“ Oder „Was waren Ihre letzten drei Einkäufe mit Kreditkarte?“.

Chat-Interviews

bleiben lassen. Dasselbe gilt in aller Regel für E-Mail-Interviews. Denn man weiß nie: Beantwortet wirklich der Befragte unsere Fragen – oder sein Pressesprecher, seine Putzfrau oder sein Hund? Das „Inter“ eines echten Interviews fehlt.

Duzen

Und wenn die Heike (Makatsch) noch so nett ist, sich der Mario (Gomez) noch so easy gibt, die Judith (Holofernes) noch so kumpelhaft daherkommt: Das Interview ist eine künstliche Situation. Und eine professionelle. Wir fragen im Auftrag von Hunderttausenden oder Millionen Lesern, Zuhörern, Zuschauern. Da ist ein professionell-distanziertes „Sie“ besser als ein vermeintlich kumpelhaftes „du“.

Eben mal so

sollte man Fenster putzen, Kaffee kochen oder jemanden in der Bar anquatschen. Aber kein Interview führen. Wer sich vorbereitet auf einen Gesprächspartner, wer sich mit seinem Leben, seinem Metier, seinen größten Leistungen und schlimmsten Niederlagen, seinen Freunden und seinen Feinden beschäftigt, wer sich seine Fragen überlegt und sie – zumindest teilweise – schon mal formuliert, wer kurzum das Interview genauso ernst nimmt wie eine große Reportage, einen Essay oder eine Dokumentation, der holt für den Leser viel, viel mehr raus als ein Mal-schauen-was-die-Situation-so-bringt-Frager.

Fremdspracheninterviews

klingen häufig gestelzt und behäbig, wenn sie ins Deutsche übersetzt werden. Das Gespräch sollte deshalb lieber übertragen als wortwörtlich übersetzt werden. Ein Beispiel für ein sehr unterhaltsames, sehr lebendig klingendes Wissenschaftler-(!)Interview ist das Gespräch mit dem Lügenexperten Paul Ekman auf sueddeutsche.de.

Geschlossene Fragen

sind nicht immer gleich Bäh-Fragen. Sie können einen Gesprächspartner dazu zwingen, Farbe zu bekennen oder können ihn, wenn er zum Schwafeln neigt, einbremsen. Zu oft eingesetzt, klingen sie allerdings schnell nach Verhör.

Hintertürfragen

Angenommen, die PR-Menschen haben uns verboten, in unserem Robbie-Williams-Interview nach den jüngsten Trennungsgerüchten zu fragen. Dann können wir es immer noch über die Hintertür probieren, indem wir etwa fragen: „Wie denken Sie eigentlich über die große Liebe?“ Und bekommen vielleicht die Antwort, das Zitat, das wir durch die Vordertür nie bekommen hätten.

Interesse

hilft beim Führen von Interviews ungemein. Echtes sogar noch mehr als geheucheltes. (Nur Peter Sloterdijk sieht das anders: Für ihn ist das Interview ein „Spiel mit falschem Interesse“. Aber Sloterdijk muss das sagen, er ist schließlich Philosoph.)

Kuschelfragen

sind in homöopathischer Verabreichung erlaubt. Überdosiert machen sie jedes Interview langweilig, so dass der Gesprächspartner auf Autopilot umschalten kann.

Lacht. Lacht laut. Lacht noch lauter.

Manche Interviews sind voll von solchen Regieanweisungen, die vermeintlich die Atmosphäre des Gesprächs transportieren. Aber ein gutes Interview kommt ohne solche Verständniskrücken aus und läuft auf eigenen Beinen. Ein gutes Interview lässt zwischen den Zeilen spüren und hören, wann es im Gespräch witzig (lacht laut) und wann es ernst (denkt lange nach) zuging.

Mund halten

ist das, was dem Fragensteller häufig am schwersten fällt – und häufig am meisten bringt, wenn es denn einmal gelingt.

Nachfragen

ist eine der drei Hauptaufgaben eines guten Interviewers. Die beiden anderen: Nachfragen und Nachfragen. Also: Habe ich eine Antwort bekommen auf meine Frage? Ist diese Antwort eine wirkliche Antwort oder weicht sie aus? Ist die Antwort verständlich, mir und dem Publikum? Im Zweifelsfall – nachfragen.

Opfer und Täter

Der Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller beschreibt in einem sehr lesenswerten Aufsatz (Lettre International, Nr. 82) das Interview als „Begegnung zweier Menschen im Wort“:

„Der eine ist, wenn Sie so wollen, der ,Täter‘, der andere das ,Opfer‘. Aufgabe des Täters ist, seinem Gegenüber möglichst wahre, auch überraschende, verräterische Auskünfte über sich zu entlocken. Anliegen des Opfers wird es zumeist sein, nur solche Geständnisse herzugeben, die es selbst an die Öffentlichkeit tragen möchte. Es findet hier also eine Art Wettkampf oder Wettbewerb statt, unter dem Deckmantel eines vorgetäuschten Spiels. Das Interview als Herausforderung, als Provokation für beide Teile, darauf wird es im Idealfall hinauslaufen.“

PR-Menschen

sind dazu da, Filmstars, Fußballspieler oder FDP-Vorsitzende im Interview in das bestmögliche Licht zu setzen. Dafür werden sie bezahlt. Interviewer sind dazu da, Filmstars, Fußballspielern oder FDP-Vorsitzenden im Interview am Lack zu kratzen. Dafür werden sie bezahlt.

Quantenphysikerinnen, Quasarentdecker und Quinoa-Anbau-Experten

– Menschen also, die ein hochspezialisiertes Fachwissen haben und sich darüber in aller Regel in wenig massenverständlichem Expertensprech ausdrücken – sind selten gute Interviewpartner. Da ist ein durchgeschriebener Bericht oder ein „10 Fakten über …“ meist die leserfreundlichere und damit bessere Lösung als das Wortlautinterview.

Redigiert

werden sollte eine Interviewabschrift wie ein guter Text: ein spannender, überraschender Einstieg, der auch den größten Reinhold-Messner-Skeptiker, Angela-Merkel-Hasser oder Dieter-Bohlen-Verachter fesselt und dazu zwingt, das Messner/Merkel/Bohlen-Interview eben doch zu lesen. Dann sollte, wie in einer Mozart-Symphonie, immer wieder abgewechselt werden – zwischen zart und krawallig, laut und leise, ernst und heiter, reflektierend und anekdotisch. Ein gutes Interview endet nicht abrupt, plätschert aber auch nicht absatzweise lang aus.

Sesamstraßenfragen

Wer? Wie? Was? – Wieso? Weshalb? Warum? – Besser geht es nicht. Bisweilen halten Interviewer Koreferate, um dem Interviewten zu zeigen, dass sie auch nicht ganz dumm sind und eigentlich mehr aus ihnen hätte werden können als nur Journalist. Aber die bescheidenen, knackig-kurzen Fragen sind meistens die besten. Die Sesamstraßenfragen eben.

Transkribieren

Der Einsatz von „Abtippsklaven“ spart Zeit und kostet Geld. Moritz von Uslar, der für das SZ-Magazin jahrelang die „100 Fragen an …“ gestellt hat, rät zum Selbstabhören: „Nur beim Hören wird das Gesprochene nochmals mit Inhalt gefüllt, denn die Eins-zu-eins-Abschrift des Gesagten ist auch nicht die Wahrheit. Nur beim Abhören kann ich spüren, in welche Richtung mein Gesprächspartner wollte, nur so kann ich den O-Ton so zuspitzen, knapper machen, weicher machen, härter machen, dass mir das Interview später auch autorisiert wird.“

Umgeschrieben

werden Interviews gerne von den PR-Menschen. Sie nutzen die Autorisierung dazu, aus dem, was gefragt und gesagt wurde, das zu machen, von dem sie gerne hätten, dass es gefragt und gesagt worden wäre. Dies alles immer im vermeintlichen Interesse des Interviewten – häufig aber vor allem im Interesse des PR-Menschen selbst, der in der Autorisierungsphase unter Beweis stellt, wie unverzichtbar seine Dienste für den Interviewten doch sind. Mögliche Gegenstrategien: beharren („Aber so wurde es doch gesagt, ich hab‘s doch so auf Band“), feilschen („Sie geben mir dieses Zitat, ich streiche dafür jenes“) oder drohen („Ach wissen Sie, dann ist das Interview nicht mehr so interessant für uns. Wir werden es kleiner machen oder ein Porträt draus stricken. Ich schicke Ihnen dann das Heft, wenn’s erschienen ist).“ Wer hier als Journalist zu schnell einknickt, vermiest sich die eigene Arbeit, nimmt dem Leser potenzielles Lesevergnügen und macht dem nächsten Interviewer die Arbeit noch schwerer. Mehr zum Thema

Verzichten

sollten wir auf die Veröffentlichung oder Ausstrahlung von Interviews, wenn: der Gesprächspartner zu „durch“ ist; beim Durchlesen der Abschrift klar wird, dass nur PR-Blabla abgesondert wurde; sich der PR-Mensch beim Autorisierungsgeschacher zu sehr aufmandelt; die Zeit über den (einstmals) aktuellen Anlass des Interviews hinweggegangen ist.

Walzer tanzen

„Mir macht Interviewtwerden genauso wenig aus wie Walzer zu tanzen – das heißt, meine Antworten hängen von der Energie und Anmut und Einstellung und Intelligenz des Gegenübers ab. Manche tanzen gut, manche tollpatschig, manche treten dir unabsichtlich auf die Füße – und manche absichtlich.“ Margaret Atwood, kanadische Schriftstellerin.

erschienen auf www.journalist.de

Eine Antwort zu “Von Autopilot bis Walzer tanzen – das A bis Z des Interviews

  1. „A-W“ nicht „A-Z“ 😦

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